22. August 2012

Sommerurlaub: Gerda Förster gewinnt achte Runde

Liebe Kukai-Freundinnen und -Freunde,

die Sommerurlaub-Haiku sind bewertet, die Punkte addiert, die internen Kommentare ausgetauscht. Und gewonnen hat: Gerda Förster vor Gerd Börner und Charlotte Eckert. Herzlichen Glückwunsch!

Jeder Teilnehmer sollte jedes Haiku bewerten. Drei Punkte bedeuteten dabei „finde ich gut.“ Zwei Punkte standen für „ist in Ordnung“. Ein Punkt hieß „gefällt mir nicht“. Von 29 Teilnehmern haben 27 abgestimmt. Den beiden Autoren, die nicht abgestimmt haben, wurde der rechnerische Vorteil von zwei Punkten vom addierten Ergebnis abgezogen. Bei gleicher Punktzahl wurden die Haiku in der alphabetischen Reihenfolge der Nachnamen veröffentlicht.

Wie zugesagt, habe ich mir in dieser achten Runde zu dem Haiku Gedanken gemacht, von dem ich glaube, dass es besonders innovativ sei. Wer sich damit auseinandersetzen möchte, findet den entsprechenden Text direkt nach der Liste der Kukai-Arbeiten.

Gelegenheit, sich zu den Haiku, den Platzierungen und eventuell auch meinen Worten zu äußern, besteht in der Kommentar-Funktion dieses Blogs.

Ich wünsche allen Autorinnen und Autoren sowie Leserinnen und Lesern eine gute Zeit. Bis demnächst!

Herzliche Grüße
Ihr und Euer
Ralf Bröker





Platz eins mit 61 Punkten



daheimgeblieben -
in den Gärten
die Stille

          Gerda Förster




Platz zwei mit 55 Punkten



ihr Kleid liegt noch
im Dünengras -
ich lächle zurück

          Gerd Börner




Platz drei mit 53 Punkten



Rue de Rivoli
im Laternenlicht
zerfließt der Tag.

          Charlotte Eckert




geteilter Platz vier



Fado —
die Nachtkerze erblüht
für den Kolibri

          Klemens Antusch



Pompeji
in der Mittagshitze
tanzt der Faun

          Ramona Linke




geteilter Platz fünf



Griechenlandurlaub -
im Reiseführer steckt ein
alter Drachmenschein.

          Tony Böhle



im Sommerurlaub
ein Tapetenwechsel
dritter Stock links

          Elisabeth Kleineheisemann



Auf dem Jakobsweg
mit dem Sommermond, baden
im Lac Léman.

          Anna Marie Neubert



Sommerhimmel      ein Flugzeug fliegt von einer      Wolke zur andern

          Monika Thoma-Petit




Platz sechs



Strandcafé –
An der Garderobe
Friesennerze

          Georg C. Sindermann




Platz sieben



Nacht am Ufer -
in einem Rettungsring
der Vollmond

          Cezar F. Ciobîcă




geteilter Platz acht



Johannistag --
wir tauchen ein ins Blau
der fernen Berge

          Gesine Becker



Badewetter -
die guten Vorsätze
fallen mir wieder ein


          Matthias Korn




Platz neun



Beim Möwenschrei
An den Strohhut stecken
Das Meeresrauschen


          Petra Klingl




Platz zehn



Nacht auf dem Strand -
noch in meinen Gedanken
die Stimme meines Chefs

          Christine Ailoaei




geteilter Platz elf




strandwanderung -
unsere spuren sind schon
verschwunden

          Bernd Balder



helle Sommernacht -
die Hängematte lächelt
die Mondsichel an

          Ioana Dinescu



kühler Tag im Juli -
vor dem Café wird trotzig
der Schaum gerührt.

          Ingmar Herr



eine Sandburg
im Schatten des Strandkorbs
noch immer Ebbe

          Silvia Kempen




geteilter Platz zwölf




letzter Urlaubstag –
am Horizont ein Segel
zwischen zwei Blaus

          Frank Dietrich




Platz 13




Schmetterlinge
just vorm Abflug - per SMS
der Pilgersegen

          Gabriele Reinhard




geteilter Platz 14




Im Reisekoffer
die bunte Badehose
von vorigen Jahr

          Zorka Cordasevic



terrasse der unendlichkeit -
im dunst verloren
himmel und meer

          Ruth Guggenmos-Walter




Platz 15



Am Ufer der Kahn.
Über das Wasser funkelt
die Morgensonne.

          Boris Semrow




geteilter Platz 16



Auf dem Reiterhof -
im Stall der Duft
verschwitzter Pferde

          Christa Beau



Sirenensingen.
Noch ein Blick zur Lorelei, -
flußabwärts, letztens

          Horst Ludwig




Platz 17



Dämmerung -
nur die Möwen läuft
in den Hafen ein

          Andra Andronic




geteilter Platz 18



die fußabdrücke
im sand sind meine – doch schon
vom wind verwischt...

          Gabriele Brunsch



Bordsteingeflüster,
eine schwüle Sommernacht
entladygt sich ...

          Beate Conrad




Merkwürdiges

Vorgenommen hatte ich mir (und den Teilnehmern versprochen), aus den Arbeiten zur achten Runde von Kukai 2010 diejenige herauszustellen mit der mich am intensivsten beeindruckenden Innovationskraft ...

... und jetzt sitze ich vor 29 Haiku zum Thema Sommerurlaub – und weiß kaum in Worte zu fassen, was sich gerade in meinem Hirn abspielt. Es würde mich also nicht wundern, wenn ich diese Zeilen, die ich gerade beginne, gleich wieder lösche. So wie die anderen Textanfänge vorhin auch ...

... nun wohl denn also: Ich traue mich. Und sage frei heraus: Ein ganzes Haiku voller Innovation ist mir nicht begegnet. Aber ganz bestimmt liegt das nicht nur an den Werken, die hier um des Lesers und damit auch um meine Gunst werben. Nein, es liegt vor allem an mir. Und vor allem an Fragen wie dieser: Was ist eigentlich Innovation?

Googeln kann man sie auf jeden Fall, diese Innovation. In den 1990er-Jahren konnte man damit sogar Bundestags-Wahlkämpfe gewinnen. Und ganz bestimmt war jedes deutschsprachige Haiku, das nicht 5-7-5 und naturbezogen daherkam, in genau dieser Zeit ausgesprochen innovativ. Also anders. Modern. Diskussionsfördernd. Herausfordernd. Nervig. Unästhetisch. Hingerotzt, womöglich?

Aber heute? Es gibt keine Tabuthemen mehr im Haiku. Vielleicht hat es sie nie gegeben. Denn schon bei den alten Meistern aus Japan tropfte und fiel es aus allen Körperöffnungen, und auch im Tun war ihnen in der eigenen Praxis oder zumindest als Beobachter nichts Menschliches fremd.

Aber braucht es überhaupt den Bruch von Tabus um über das Thema zur Innovation zu gelangen? Auf keinen Fall! Im jüngsten SOMMERGRAS hat’s Dietmar Tauchner ja sehr lesenswert zusammengefasst:

Freilich wird es zunehmend schwieriger, beispielsweise ein nachhaltiges Haiku über „Kirschblüten“ zu schreiben, einfach weil dieses Sujet schon so oft aufgegriffen worden ist. Neue Sujets wie beispielsweise jene aus der Wissenschaft könnten lohnende Orientierungspunkte sein. Warum nicht einmal kühn ein modernes Haiku über ein Thema der modernen Kosmologie, zum Beispiel über „dunkle Energie“ verfassen?

Dunkle Energie

Vater verlässt
die Erde


            Dietmar Tauchner

Doch auch die Form kann uns zum Innovativen führen. Ja, bestimmt ist das möglich. HaikuNow! zeigt das für den englischsprachigen Haijin in aller Klarheit und Verstörung.


Doch was soll der Blick auf anderes: In unseren 29 Kukai-Beiträgen habe ich derart vollständige Ausbrüche aus Form oder Inhalt nicht erlebt. Was aber bleibt dann auf der Suche nach Innovation in dieser achten Runde?

Ich würde an dieser Stelle gerne etwas weiter ausholen und – man möge mir verzeihen – mich selbst zitieren aus einem Beitrag im Kukai-2010-Blog:

Ich bin sehr gespannt, ob die klassischen Vorurteile über Kukai und Jury-Wettbewerb bei diesem Wettbewerb bestätigt oder widerlegt werden: Dem ersteren sagt man ja nach, dass das Mittelmaß oft vorne, das gute Experiment aber stets hinten landet. Und dem zweiten wird vorgeworfen, dass die Besetzung das Ergebnis bestimmt. 
 
Mit diesem natürlich wieder viel zu lang geratenen Statement habe ich versucht, zur Teilnahme am ersten und sehr gut angenommenen SOMMERGRAS-Kukai der DHG aufzurufen.

Heute würde ich den Fokus gerne auf das Vorurteil dem Kukai gegenüber legen: dem Primat des Mittelmaßes. Man darf auch auf Neudeutsch Mainstream sagen. Von mir aus auch: Bewährtes.

Denn die Sache ist klar: Wer bei einem Kukai vorne landen will, setzt besser auf das sichere Pferd. Eins, das anderswo zwar von anderen Reitern und mit anderem Sattel, aber eben doch erfolgreich geritten wurde. Was ja auch kein Problem ist: Denn selbst wenn das Meiste irgendwann einmal bereits gesehen, gedacht und gefühlt worden ist: Längst nicht alles wurde auch schon in Deiner und Ihrer Sprache aufgeschrieben. Und nur das Wenigste wurde bereits veröffentlicht. Noch weniger natürlich als Haiku.

Es verbleiben dann immer noch große Mengen an Text. Mitunter findet sich darin auch beachtliche Qualität in Form und Inhalt. Eine Qualität, die unsere Erwartung prägt. Die wir uns aneignen. Die wir gerne lesen. Und schreiben.

Wie mutig muss also jemand sein, der sich bewusst den vielen bekannten Qualitäten und den noch häufigeren Klischees in unserer lauten und bunten Effekt- und Bilderwelt widersteht – und einen neuartigen, ganz individuellen Knall riskiert? Womöglich auf die Gefahr hin, dass bei den meisten Lesern die mit Herzblut geschaffene Klangkulisse als Rohrkrepierer wahrgenommen wird? Oder als unverständlich?

Genau so ist es in diesem Kukai – absehbar – dem Bordsteingeflüster gegangen, das uns mutig eine schwüle Sommernacht entgegen geschleudert. Eine schweißtreibende Angelegenheit findet hier Raum und Zeit. Offenbar wechseln ein paar Scheine. Aber trotzdem ist die früher bestimmt tabubrechende Szene bis hierhin kaum innovativ. Bis sie sich entladygt ...

Bitte was? Entladygt? Was soll das denn sein? Und was soll das heißen? Werden da Huren rausgeworfen? Oder streift der Escort-Service das Damenhafte ab und dann – natürlich nur in meinem Kopf – die Domina-Handschuhe über? Fliehen da schlicht ein paar Prostituierte vom Straßenstrich? Weil die falschen Rocker kommen? Unangenehme Freier? Die Polizei? Oder steigen sie einfach nur nacheinander ein in die Wagen ihrer Kunden?

Das Tempo des Verschwindens dieser Ladies scheint mir einerseits oberklassig vornehm zu sein. Die sprachliche Nähe zu erledigt, entledigt, entleibt hinterlässt aber andererseits mehr als nur einen Hauch von Gewalt. Und auch wenn da Witz aufblitzt in dieser Zeile – von heile Welt keine Spur. Mensch, da wagt jemand zu dichten.

entladygt sich ist eine mutige Zeile. Eine Zeile weit jenseits des Mainstream und Bewährten. Was hohe Punktzahlen in einem Kukai unwahrscheinlich macht. Also bin auch ich mutig und stelle mich dem Votum der meisten Kukai-Teilnehmer entgegen: Von mir gibt's klare drei Punkte. Das heißt: unbedingt veröffentlichen. Weil so etwas Ungewöhnliches möchte ich öfter lesen. Mich aufregen. Doof finden. Mich herantasten. Gut finden. Verwerfen. Zurückkehren. Zur mir finden.

Was ist Innovation, wenn nicht das? Mutiges und Verstörendes. Vorurteile Zerbrechendes und Neues Präsentierendes. Und in Bashos Sinne: Merkwürdiges.

Die Wortschöpfung entladygt sich ist Innovation.

Ich lass das mal so stehen.

2 Kommentare:

Matthias Korn hat gesagt…

Lieber Ralf,

vielen deiner Ausführungen möchte ich mich vorbehaltlos anschließen. An einigen Punkten reibe ich aber und auf diese möchte ich denn auch antworten.

Hebt Innovation ein Haiku qualitativ aus dem Mainstream, dem Mittelmaß heraus?
Das kann es, sicher. Wie viel hat das deutschsprachige Haiku dadurch gewonnen, dass es Autoren gab, die plötzlich nicht mehr 5-7-5 schrieben, nicht mehr drei Zeilen brauchten, um diesen Haiku-Moment zu erzeugen. Eines der für mich besten Beispiele ist hier Dietmar Tauchners „ihre sms Fliederduft“.

Ist ein innovatives Haiku damit automatisch ein Haiku, das unbedingt veröffentlicht werden muss?
In einer Kukai-Runde möchte ich die Haiku auswählen, die mir, mit meiner eigenen Erfahrungswelt, Raum geben für eigene Gedanken, mich mit einer Wendung überraschen, die nachklingen und mich für diesen einen Atemzug mit dem Autor verbinden. Wenn ein Haiku das tut, mit ungewöhnlicher Form oder einem Tabuthema, wenn es verstörend ist, mich berührt oder etwas völlig Neues, finde ich das klasse.

Gerade ungewöhnliche Haiku lese ich viel aufmerksamer und verweile auch länger, lasse sie auf mich wirken. Das kann zu besserer oder auch kritischerer Bewertung führen, auf jeden Fall.

Für mich stellt sich daher nicht die Frage, ob das Haiku von Beate Conrad innovativ ist, sondern welche Bilder bei mir entstehen.
In den ersten beiden Zeilen entsteht für mich ein Bild… das Bordsteinflüstern führt zu Bordsteinschwalben… dazu eine schwüle Sommernacht … Hitze, Schweiß, vielleicht käuflicher Sex … das gibt dem Haiku für mich eine Richtung, einen verruchten Touch, ich sehe die Szene am Straßenrand vor mir.
In diesem Sinne ist das Thema an sich schon selten in deutschen Haiku, auch wenn es sicher kein „Aufreger“ mehr ist.
Bis dahin wäre das Haiku für mich perfekt gewesen, unbedingt zu veröffentlichen.

Dann kommt „entladygt sich“ und die Bilder sind weg. Ich sehe dann leider nichts mehr, da ich mit dem Wort an sich nichts anfangen kann, trotz stutzen und nachklingen lassen… OK, ein Wortspiel, mit einem Augenzwinkern… für mich bleibt nur, zu denken, dass wohl zuerst dieses Wort „entladygt“ da war und alles andere im Haiku darum herumgeschrieben wurde. Neben dem für mich schon sehr schönen ungewöhnlichen Wort „Bordsteingeflüster“ wirkt das Haiku nun überladen. Daher gab es, wie auch für andere Haiku dieser Auswahl von mir nicht volle 3 Punkte.

Ansonsten stimme ich mit dir überein, dass bewährte Haikuformen und -themen, egal wie oft schon ähnlich oder genau so beschrieben und gelesen, in solchen Auswahlrunden eher zu besserer Platzierung führen. Ob das nun dazu verführt, eher Bewährtes einzureichen? Ich weiß nicht.
Wenn ich auf die Namen der Autoren in dieser Auswahl schaue, sehe ich einige, die schon ungewöhnliche Haiku geschrieben und sicher auch Diskussionen ausgestanden haben dürften.

Aber Innovation ist ja nicht alltäglich. Was wäre dann daran noch besonders und aufregenswert?

Anonym hat gesagt…

Seid gegrüßt!

Ich kann Herrn Korn nur beipflichten. Des Weiteren möchte ich einen Punkt von Herrn Bröker bzw. Herrn Tauchner aufgreifen. Wenn es stimmt, dass Sujets aus der Wissenschaft neue Möglichkeiten für innovative (oder zumindest unkonventionelle) Haiku eröffnen, dann könnte man dies doch zum Thema des nächten Kukai machen. Was meint ihr?

Gruß,

Frank Dietrich